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"Zwischen zwei Welten"

Mein Debütroman ist seit Ende 2018 im Handel!

Auch wenn es vordergründig Fantasy ist, ist dieser Jugendroman sehr politisch und nimmt die großen Themen unserer Zeit (Datensammlung/-schutz im Internet, Stimmungsmache gegen Minderheiten) auf. Was wäre, wenn in die bunt bevölkerte Fantasywelt plötzlich rassistische Gedanken einziehen, ganz langsam und unbemerkt? Was wäre, wenn sich in einer technisch hoch modernen Demokratie plötzlich tiefe Abgründe auftun?

Insgesamt entwickelt sich das Fantasy-Genre gerade (hoffentlich) in genau den zwei Bereichen weiter, die mir persönlich auch besonders wichtig sind - Fantasy sollte politisch(er) werden und sie sollte interessante, entwicklungsfähige Frauenfiguren enthalten, die ihren eigenen Weg gehen. Genau dies versuche ich mit  meinem Roman, denn meine "Emelie" ist zuerst einmal ein ganz normales Mädchen mit Freundinnen, einem durchschnittlichen Leben, aber einer bisher wenig beachteten besonderen Begabung - irgendwie muss man ja zu einer legitimen Hauptfigur werden ;-) Allerdings will sie blöderweise weder die Welt retten noch einer der beiden Seite des im Roman geschilderten Konfliktes zum Sieg verhelfen, die das doch schon so fest eingeplant hatten. Dumm für die Kriegstreiber, dass Emelie aus der großen Heldengeschichte nun etwas ganz Eigenes macht...

 

Die ersten Seiten stehen hier als Leseprobe. Zum Inhalt:

 

Emelie wächst in einem Waisenhaus auf, nachdem ihre Eltern auf mysteriöse Weise verschwunden waren, als sie noch ein kleines Mädchen war. Nun, als Jugendliche, haben die Technokraten, die diese Welt beherrschen, ein großes Interesse an ihr - denn sie hat ein enorm hohes magisches Potential und ist die letzte Hoffnung im Kampf gegen die Schwarzen Magier, die die Welt erobern und alle Technik vernichten wollen. Emelie und einige andere werden zu einer magischen Eliteeinheit ausgebildet, die die Gegner der Technokraten mit ihren eigenen Mitteln schlagen sollen. Parallel dazu wird auch die Technik immer weiter entwickelt. Allerdings eskaliert der Krieg deutlich schneller, als alle Beteiligten es vorausgeahnt hatten. Und je mehr Emelie in den immer heftiger tobenden Krieg hineingezogen wird, desto mehr Zweifel kommen ihr. Steht sie wirklich auf der richtigen Seite? Zusammen mit dem Jungen Maru, der ebenfalls über magische Kräfte verfügt, und dem alten Knecht Grant, der sie nie im Stich gelassen hat, versucht Emelie, ihren eigenen Weg zu gehen und irgendwie trotz aller Wirren des Krieges erwachsen zu werden. Denn sie erkennt, dass alle, die mit ihr zu tun haben, bereits ihre Pläne haben - ohne dass sie etwas mitbestimmen soll. Sie will sich von allem befreien, koste es was es wolle. Immer klarer wird ihr, dass sie dazu aber auch ihre Eltern finden muss, um ihr Kindheitstrauma endlich überwinden zu können.
 

Ein Roman über das Erwachsenwerden, das Erwachen der Liebe und die Wichtigkeit eigener Ziele in einer Welt, die den Menschen zu etwas formen möchte, was eigentlich gar nicht seinen Bedürfnissen entspricht.

Prolog

 

Grant, der alte Knecht, dessen eigentlicher Name schon so lange in Vergessenheit geraten war, dass alle nur den Spitznamen des grantigen alten Herrn behalten hatten, richtete sich stöhnend auf und blickte Richtung Horizont. Ihm war, als hätte er dort ein Geräusch gehört, doch so weit er sehen konnte, wogten die unendlich scheinenden Weizenfelder im leichten Sommerwind hin und her.

Der kleine Bauernhof, als wäre er ein kitschiges Gemälde, aufgehängt irgendwo in einem alten Märchenschloss, das man sich ansieht, wenn man für einen Augenblick aus der Realität des Alltags flüchten will, lag weit entfernt von den schwarzen Berge der Nordkette, die im Dunst der flimmernden Luft nur zu erahnen war. Er stand mitten in den Feldern, es gab nur eine langgezogene, geduckte Scheune aus Lehmwänden, ein strohgedecktes Haupthaus mit hübschem Fachwerk und weiß verputzten Wänden sowie ein paar Nebengebäude. Der Misthaufen war verwaist, der Hahn hatte sich längst vor der Sonne in Sicherheit gebracht und wartete im Schatten auf den lauen Abend.

Auf dem Hof war alles still. Niemand schien unterwegs zu sein, nur Grant hatte auf seine Mittagspause verzichtet, um den Zaun vom Schweinegehege wieder in Ordnung zu bringen. Das alte Holz war mal wieder an einigen Stellen so morsch, dass die Schweine am Morgen ausgebrochen waren. Es hatte den ganzen Morgen gedauert, bis alle zwölf Tiere wieder im Stall zusammengetrieben waren.

Jetzt war sich Grant sicher, ein Geräusch gehört zu haben, aber eher hinter ihm. Etwas Warmes berührte seine Hand und er zuckte zusammen. Ein kleines Mädchen sah ihn mit großen Augen an.

»Emelie«, lachte er und nahm sie auf den Arm. Sie war der einzige Mensch, der Grant zum Lachen bringen konnte. »Was möchtest du von mir?«

Das Kind lachte zurück. »Was machst du denn?«, fragte es, ohne auf Grants Frage einzugehen.

»Ich beobachte den Horizont. Ich glaube, irgendetwas kommt auf uns zu. Kannst du etwas erkennen?«

Emelie beschattete ihre Augen mit der Hand und blickte angestrengt in die Ferne. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Mama sagt, du sollst reinkommen zum Essen«, verkündete sie plötzlich. Grant lachte wieder.

»Na gut, mein kleiner Schatz«, entgegnete er, »dann müssen die Schweine wohl doch noch ein wenig warten, bis sie wieder hinaus können.«

Dann ging er mit dem Kind an der Hand ins Haus, doch kaum, dass sie das dunkle Innere des alten Gebäudes betreten hatten, erzitterte die Erde leicht. Es hörte jedoch sofort wieder auf. Grant runzelte die Stirn und sah Martha Barda fragend an, die aus der Küche gelaufen kam. Kurz darauf blickte auch ihr Mann Elin aus der Küche und ließ wachsam seinen Blick durch den Raum gleiten. Wie ein weiteres Gemälde, Landidylle vergangener Zeiten: Der aus grobem Holz geschnitzte Tisch mit seinen sechs Stühlen, die uralte Kommode, verblichene Bilder an der Wand, die durchhängende Holzdecke, an der die Petroleumlampe befestigt war. Sonst nichts.

Wieder erzitterte der Boden, ein dumpfes Grollen war zu hören, dann wurde es draußen plötzlich dunkler. Elin hastete zum nächsten Fenster und blickte hinaus.

Zu seiner Frau gewandt, sagte er: »Martha, es ist so weit.«

»Jetzt schon?«, gab sie entsetzt zurück. »Emelie ist noch so jung und wir haben nicht...«

»Dafür ist keine Zeit«, unterbrach sie Elin. »Es ist, wie es ist. Sie wird es verstehen, irgendwann.« Er schluckte und ergänzte dann: »Das Schattenfeuer.«

»Wir versuchen es mit ihr.« Martha zeigte auf ihre Tochter.

»Du weißt, dass das nicht geht. Ihr droht hier keine Gefahr, lass uns verschwinden. Wir haben kaum noch Zeit!«

Martha seufzte, streifte sich ihre Schürze ab, eilte auf Emelie zu und hob sie hoch. »Mein süßer, lieber, kleiner Schatz. Ich hatte gehofft, dass wir noch einige Jahre haben. Nun ist es anders. Ich liebe dich über alles! Merke dir nur diese Worte: IN DEINEM SPIEGELBILD WIRST DU EINES TAGES DEINE MUTTER SEHEN: DANN FOLGE DEINEM HERZEN!«

Die Spiegelworte stürzten klirrend wie zersplitterndes Glas über Emelie. Scharfkantig rissen sie Wunden in ihre kleine Seele, derer sie sich zunächst gar nicht bewusst war. Mit Tränen in den Augen blickte ihre Mutter den Knecht an. »Pass gut auf sie auf, Grant«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. Elin kam, drückte das Kind und den Knecht, sah Grant in die Augen und sagte nur: »Du weißt, was zu tun ist. Ich verlasse mich auf dich.« Er strich Emelie noch einmal über den Kopf, dann hasten sie in den hinteren Teil des Hauses. Ein Summen und Knistern ertönte, das immer lauter wurde und schließlich sogar das dumpfe Grollen von draußen übertönte. Dann gab es einen Knall und alles wurde ruhig. Grant sagte kein Wort, sondern ging mit Emelie an der Hand nach draußen. Das Mädchen weinte und drückte sich eng an ihn. Um den Hof herum hatten Panzer, Hovercrafts und einige Flammenkanonen Stellung bezogen. Graue Wolken waren aufgezogen, vielleicht war es auch der Staub, den die Fahrzeuge aufgewirbelt hatten an diesem heißen Sommertag, die Sonne war jedenfalls nur noch ein matt schimmernder Kreis und die ganze übrige Welt schien hinter einem Vorhang verschwunden zu sein.

»Es ist niemand sonst hier!«, schrie Grant gegen den Motorenlärm an. »Wir sind ganz allein!« Einer der Hovercrafts flog über den Schweinestall, landete im Hof und die Tür öffnete sich. Ein elegant gekleideter, weiß uniformierter junger Mann stieg heraus und sah sich um.

»Unsere Scans haben in der Tat ergeben, dass hier nur zwei Menschen sind. Allerdings haben wir Partikelspuren weiterer Menschen geortet, die vor wenigen Minuten noch hier gewesen sein müssen. Wo sind sie?«

»Technokraten!« Grant spuckte auf den Boden. »Was wisst ihr schon?«

»Beinahe alles«, lächelte der Mann unbeeindruckt zurück. »Aber leider ganz offensichtlich trotzdem noch nicht genug.« Er nickte in Richtung des Wohnhauses. »Sind die beiden durch ein magisches Portal verschwunden?«

Grant blickte sein Gegenüber fest an. »Ich kenne keine magischen Portale«, sagte er leise.

»Natürlich nicht«, antwortete der Uniformierte. »Sie haben zehn Minuten, Ihre wichtigsten Habseligkeiten aus dem Haus zu holen. Dann wird dieser Hof hier mit antimagischer Energie vernichtet. Beeilen Sie sich.«

Als wenig später die Hovercrafts mit ihren zwei neuen Passagieren Grant und Emelie in die Luft stiegen, ließen sie hinter sich nichts als völlige Verwüstung zurück. Der Hof, auf dem Emelie die sechs Jahre ihres bisherigen Lebens verbracht hatte, existierte nicht mehr und nur noch ein schwarzes Loch in der Erde war übrig geblieben.

Ein Gemälde zu zerstören, ist immer leichter, als es zu erschaffen, und die Vernichtung kann im Gegensatz zur Schöpfung von jedem vollbracht werden.

 

Ein Rauschen ertönte im Cockpit, dann kam ein Funkspruch, den Grant und Emelie nicht verstehen konnten, aber die Antwort des Uniformierten konnten sie hören. »Ja, das verflixte Portal ist zerstört. Aber die Auswirkungen auf die Umwelt sind massiv gewesen, es muss lange Zeit gestrahlt haben. Und es muss eine starke magische Abschirmung erzeugt haben, dass es so lange unentdeckt bleiben konnte. Wir haben zwei Menschen aufgenommen, sie sind nach ersten Scans magisch stark kontaminiert. Wir werden sie zur Untersuchung nach Kapita bringen.« Nach einer Pause ergänzte er noch: »Ja, nach der Auswertung der ersten Messwerte denke ich, dass wir es hier mit einem sehr mächtigen Schattenfeuer zu tun haben. Das Portal führte eindeutig nach Nurmana und es ist einfach verschwunden. Die zwei Personen, die wir an Bord haben, sind in keiner unserer Datenbanken für kriminelle Aktivitäten verzeichnet. Sie scheinen normale Bürger zu sein, sind aber wohl lange Zeit geistig beeinflusst worden von ihren Mitbewohnern, die nun durch ein Portal verschwunden sind.«

Dann drehte sich der Mann zu Grant und dem Mädchen um und sagte: »Sie wissen gar nicht, was Sie für ein Glück hatten! Noch wenige Monate Strahlung, und wir hätten Ihnen nicht mehr helfen können. Diese Magie ist ja eine ganz nette Sache, wenn man denn wüsste, welche Kräfte man da entfesselt. Leider wissen diese Magier das meist nicht. Aber machen Sie sich keine Sorgen, unsere Ärzte kriegen das schon wieder hin.«

Grant schüttelte wortlos den Kopf und nahm Emelie in den Arm. »Wo sind Mama und Papa?«, fragte sie verschüchtert.

»An einem sicheren Ort«, antwortete Grant so leise, dass ihn nur das Kind verstehen konnte. »An einem weit entfernten, sehr sicheren Ort.«

 

Wenn man nach langer Zeit ein Bild vom Haken nimmt, es auf den Boden wirft und das schützende Glas zerbirst, bleibt an der Wand meist ein weißer Fleck auf ansonsten grauem Grund zurück. Man steht davor und es fühlt sich falsch an, dass da nun nichts mehr ist. So ist seitdem Emelies kleine Märchenschloss-Seele, und unter ihren Sohlen knirschen die Abschiedsworte aus zersplittertem Glas.

 

 

Kurzgeschichten

Liebe auf Zeit

(3. Platz beim Moerser Literaturpreis 2012)

 

Die Sonne strahlt durch die Jalousien in das Schlafzimmer. Er liegt neben mir im Bett und atmet ruhig.
Ich liebe diese stillen Momente am Morgen danach.
Gestern Nacht sind wir noch auf einer wilden Reise gewesen. Wir standen an den Klippen, sturmumtost, dort, wo es zur endgültigen Entscheidung kam. Unsere Welt war reduziert auf diesen Augenblick, diese Situation. Ich erschauere noch bei dem Gedanken daran, wie er mich mit beiden Händen festhielt und zu mir herabblickte. Eine Träne stahl sich in einem unbemerkten Moment aus seinem Auge, rann ihm über die Wange und fiel auf mich. Ich fing sie auf und schloss sie ein in mir.

Jetzt ist alles vorbei. Ich weiß, dass es nun aus ist. Es ist keine Überraschung, er hat niemals etwas anderes gesagt. Mir keine falschen Versprechungen gemacht. Selbst als er mir sanft über den Rücken streichelte, was ich so sehr mag, wusste ich, dass es eine Liebe auf Zeit ist, nicht mehr.
Ich habe gelernt, dankbar zu sein für schöne Zeiten, auch wenn sie niemals von Dauer sind. Dankbar bin ich auch dafür, immer wieder neue Menschen kennen zu lernen, zu sehen, wie sie wohnen, was sie essen und was ihnen Freude bereitet. Ich bin immer stolz, wenn ich ein wenig dazu beitragen kann - zur Freude, zur Unterhaltung, zum persönlichen Lebensglück. Das ist meine Bestimmung, und ich kann leben damit. Eigentlich sogar ganz gut.

Man lernt Menschen kennen, die man sonst niemals getroffen hätte. Zuerst hatte ich noch sehr elitäre Vorstellungen. Ich dachte, ich sei etwas ganz Besonderes, Begehrenswertes und würde zu einem Hochschulprofessor passen, zu einem berühmten Architekten oder dem angesehensten Schönheitschirurgen. Als schmückendes Beiwerk, selbstverständlich, als mehr nicht, aber immerhin.
Doch so kam es nicht - ganz andere Menschen interessierten sich für mich. Und je mehr Enttäuschungen ich erlebte, desto mehr fand ich zu mir. Desto mehr war ich mir meines Wertes, meiner Einzigartigkeit bewusst. Wie konnte ich so unfassbar verirrt sein, mich über den angeblichen Status eines anderen zu definieren? War ich nur wer, wenn ich mit jemandem zusammen gesehen wurde, von dem man annahm, dass er ein Jemand war?
Ich habe gelernt, dass genau diese Menschen sich in der Regel nicht für mich interessieren. Dabei habe ich doch so viel zu sagen! Schmerzlich habe ich erfahren müssen, dass genau das das Problem ist. Diese Menschen glauben, selbst genügend zu sagen zu haben. Sie sind sich selbst einzigartig und begehrenswert genug, sie genügen sich und damit genügten sie mir irgendwann nicht mehr.
Welch ein Befreiung war diese Erkenntnis!

Endlich konnte ich mich den Menschen zuwenden, die meiner bedurften, weil sie sich selbst nicht zum Maß aller Dinge machten. Sie hörten auf mich und ich konnte meine Aufgabe erfüllen.
Meine Aufgabe nämlich, schöne Momente zu schaffen.
Es ist wunderbar, mit einem Menschen allein zu sein. Zu wissen, dass er sich jetzt Zeit nimmt für mich, mir zuhört und den Rest der Welt vergisst.
Wenn alles so läuft, wie ich es mir wünsche, machen wir eine Reise in eine andere Welt. Wir berauschen uns an fremden Farben, Gerüchen, Eindrücken, die ich heimlich hinein bringe und erst offenbare, wenn er sich auf mich einlässt.
Ich gebe es zu, ich versuche immer, ihn zu verführen. Ich beherrsche zuerst die Macht des Wortes in Perfektion, umgarne seinen Geist, löse ihn vorsichtig, unmerklich aber unnachgiebig aus seiner Welt heraus und ziehe ihn in meine. Dann eröffne ich ihm diese Welt, an der er sich berauschen kann, in der er alles vergisst. Seine Wahrnehmung ist dann gestört, er bekommt nicht mehr mit, was um ihn herum passiert, doch er wehrt sich meist auch nicht dagegen.

Mein schlechtes Gewissen habe ich schon lange besiegt. Gewiss, manche Menschen waren sehr jung, als sie in meine Abhängigkeit gerieten. Ich trug die Schuld daran, dass sie nicht genug für ihren Abschluss taten oder ihre Freunde vernachlässigten, was halt passiert in solchen Situationen.
Sogar eine Ehe habe ich angeblich auf dem Gewissen, doch glaube ich heute fest daran, dass ich nur der letzte Stein einer großen Lawine war, die über diese armen Menschen hinwegfegte und dass sich auch ohne meine Anwesenheit die Ereignisse nicht anders zugetragen hätten. Die meisten Menschen, die es mit mir versuchen, wissen auch von meinen Machenschaften. Zumindest ahnen sie etwas davon und lassen sich trotzdem billigend darauf ein.Doch, mein schlechtes Gewissen habe ich wirklich besiegt, denn es ist zu einfach, mir die Schuld zu geben. Ich bin, wie ich bin, ich biete mich an und mache ebenfalls keine falschen Versprechungen. Wer mich will, will dies aus freien Stücken. Und wenn jemand mich will, entführe und berausche ich ihn, solange er es für richtig hält. Außerdem ist es niemals ein Weg ohne Wiederkehr.
Zurück bringt einen oft doch ganz Profanes - ein Klingeln, ein Geruch oder eine plötzliche Berührung aus der anderen Welt.

Mit einem anderen Komplex habe ich aber noch immer zu kämpfen: Viele finden, ich sei zu dick. Sie sehen mich dann an, weil ich sie fasziniere, aber dann schrecken sie doch vor mir zurück. Ich frage mich immer, warum das allein ausschlaggebend sein soll. Auch hier musste ich erst lernen, dass viele Menschen furchtbar oberflächlich sind und sich eben auch an Oberflächlichkeiten orientieren. Erst die, die hinter die Fassade schauen, erkennen irgendwann - manche zum Glück sehr schnell - was sie an mir haben.
Wenn diese Menschen es dann mit mir versuchen, habe ich schon oft erlebt, dass das, was sie zuerst verschreckte, immer mehr in den Hintergrund rückt. Es ist nicht mehr wichtig, andere Dinge zählen, wirklich wichtige Dinge.

Neben mir regt sich jetzt etwas. Er stöhnt im Schlaf, dreht sich noch einmal um und zieht die Decke über den Kopf.
Meist machen wir es im Bett. Warum eigentlich? Was fasziniert die meisten Menschen daran? Natürlich haben mich manche auch mit ins Wohnzimmer oder in die Küche genommen. Auch die Badewanne ist noch recht beliebt. Ich finde nicht, dass es auf den Ort sonderlich ankommt, wenn man sich doch eh sehr bald auf andere Dinge konzentrieren wird. Doch vielen meiner Partner ist es scheinbar wichtig und sie entscheiden sich dann für das Bett. Manchmal ist es sehr kurz, manchmal machen wir fast die ganze Nacht durch. Danach schlafen sie meist sehr schnell ein und lassen mich allein mit meinen Gedanken.
Die späten Abend- und die frühen Morgenstunden, das ist die Zeit meiner Gedanken. Hier bin ich für mich, denke über die Welt nach und versuche, sie mir so zu erklären, dass ich mit meinem Platz darin zufrieden bin. Meist klappt das schon ganz gut.

Nun wacht er langsam auf, dreht sich hin zu mir, öffnet dann mühsam die Augen. Als er mich sieht, lächelt er, aber es ist so viel Wehmut in seinen Augen. Ich kenne diesen Blick, der vom Wissen über das nahe Ende zeugt, gegen das ich mich auch dieses Mal nicht wehre. Zu sehr schmerzte es früher, als dass ich dies jetzt noch an mich heranlasse.
Manchmal wünsche ich mir, für immer bei jemandem zu bleiben.
Als ich noch unberührt war, begehrenswert, da hatte ich diese Träume oft. Doch ich bin nun schon durch viele Hände gegangen, das macht mich in den Augen der meisten unattraktiv.
Ganz aber habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, irgendwann den Seelenpartner zu finden, der mich bei sich aufnimmt, mir einen dauerhaften Platz in seiner Wohnung, seinem Leben und seinem Herzen schenkt.
Vielleicht kommt auch irgendwann einmal jemand zu mir zurück. Jemand, der eventuell erst nach langem Ausprobieren zu erkennen vermochte, was er an mir hatte. Der mich nimmt, wie ich bin, mit all meinen Stärken und Schwächen und meinem Vagabundenleben ein Ende macht. Ich habe gehört, dass man sowieso über kurz oder lang aussortiert wird - was passiert dann? Ist das der Moment, an dem ein neues Leben beginnt? Vielleicht mit ihm hier?
Er ist wirklich nett - gefühlvoll, ordentlich, gebildet und bescheiden.

Ich bin wieder allein, er ist aufgestanden und in die Küche gegangen, von der dieser verführerische Kaffeeduft nun bis zu mir hinüber weht. Noch einmal dieser Duft!
Ich merke, dass ich melodramatisch werde und ziehe mich schnell wieder in meine Welt zurück. Ich weiß, dass ich an diesem Ort und diesem Menschen nicht hängen darf. Wie sonst soll ich den Nächsten kennen lernen, neue Eindrücke gewinnen, einen weiteren Schritt gehen auf meinem langen Weg, die Welt zu erkunden?
Bei allem Abschiedsschmerz, ich könnte wohl doch niemals für immer an einem Ort verbleiben. So sehr ich auch manchmal glaube, die Sehnsucht danach zu verspüren, so freue ich mich doch viel zu sehr auf das nächste Abenteuer. Trotzdem ist das, was jetzt kommt, nicht schön.

Wir sind in die Stadt gegangen. Ich kenne den Weg, ich weiß wohin er führt, und viel zu schnell sind wir da.
Der Abschied ist kurz und furchtbar nüchtern.
Ich werde von groben Händen gepackt, gescannt, in einen großen Metallbehälter geworfen und wenig später dorthin zurückgebracht, wo ich hergekommen bin: Man stellt mich zurück zwischen all die anderen Bücher.

 

Bei Irina

 

Wir sind eingeladen zum Grillen, im Schrebergarten von Freunden.

Vor den Toren der Stadt, direkt am Fluss, die Sonne scheint, ein heißer Julitag.

Umarmungen, Glückwünsche, sie feiert Geburtstag.

 

Sie heißt Irina. Viele Glückwünsche sind auf russisch. Einer läuft mit einem Polska-Shirt herum und zapft großzügig Bier für die Neuankömmlinge. Dankend nehme ich an.

Es gibt Schaschlik, Salate, die Kinder spielen im Garten. Die Hühner sind aufmerksam und hoffen, vom Buffet etwas abzustauben.

 

Neben uns sitzt ein deutsch-russisches Paar. Die Kinder werden mal auf deutsch, mal auf russisch ermahnt oder gelobt. Es ist wie immer bei Irina.

Doch plötzlich zieht Moritz sein Smartphone und zeigt digitalisierte, alte Familienbilder. Eins brennt sich sofort bei mir ein – sein Großvater als junger Mann. Er blickt betont ausdruckslos in die Kamera, doch in seinen Augen kämpfen Stolz und Angst miteinander.

Er trägt eine Wehrmachtsuniform. Das Foto ist 1943 entstanden, am nächsten Tag kam der Marschbefehl. Ostfront.

Die Bahn fuhr nur teilweise. Nach Stalingrad war der deutsche Vormarsch ins Stocken geraten. Partisanen sabotierten die Bahnlinien, teilweise musste marschiert werden. Die Verpflegung funktionierte nicht gut, man musste die russischen Dörfer plündern, die auf dem Weg lagen. Die meisten liefen weg, Frauen, Kinder, Männer. Manche erschoss man auf der Flucht. Andere verteidigten ihren Gemüsegarten, arme Irre. Mit Spaten und Harke gegen die deutsche Wehrmacht. Sie wurden auch erschossen, die Frauen geschändet.

Moritz' Großvater hat Irinas Opa in die Augen geschaut. Und später, da hat auch er geschossen. Auf den Opa von Dimitri, auf den Großvater von Alexej.

Die Russen sind schließlich unser Untergang! Der Bolschewismus muss aufgehalten werden! Jeder Russe ist ein Untermensch!

Schwer verwundet ist Moritz' Opa nach Hause gekommen, Ende 1944. Er hat bis zum Ende seines Lebens Deutschland nicht mehr verlassen.

 

Moritz zeigt nun eine Fotografie seines Vaters als ganz junger Mann, man sieht die Ähnlichkeit. Er steht vor der entstehenden Mauer in Berlin, drohende Gebärden nach „drüben“. Er hat eine Amerikafahne in der Hand. Andere stehen bei ihm, halten Plakate in der Hand. „Weg mit der russischen Besatzung“, hatten sie darauf geschrieben, oder „Tod dem Bolschewismus!“.

Gegenüber stand ein russischer Panzer, der Motor lief, bedrohlich klangen die Ketten, als sich das Ungetüm langsam über den Asphalt wälzte. Das Kanonenrohr drehte sich, bis es auf die Demonstanten zeigte. Diese waren verschüchtert, wichen aber nicht zurück.

Die Luke öffnete sich, ein russischer Soldat blickte heraus. Er schrie etwas in seiner Sprache und fuchtelte mit den Händen herum. Dann drohte er mit einem Maschinengewehr. Die Demonstanten verschwanden.

Das alles hielt den Bau der Mauer nicht auf, veränderte die Weltgeschichte nicht und wurde in keinem Geschichtsbuch erwähnt. Aber es wurde erzählt, in der deutschen Familie und in der russischen.

Doch das ist lange her.

Die Mauer ist gefallen und eine russische Familie ist in den Westen gegangen.

Sie trugen die alten Geschichten im Herzen, doch sie verschlossen ihre Herzen deswegen nicht.

Jetzt sprechen alle zusammen über die Technik des Digitalisierens und denken über die Geschichte der Bilder gar nicht nach.

 

Und Moritz' Tochter, halb Russin, hat nun die Augen ihres Großvaters und seine Wangenknochen geerbt. Die Haare aber hat sie ganz eindeutig von ihrer russischen Mutter.

 

Auf dem Rückweg, Klimaanlage und Radio an, Nahost-Konflikt.

Bomben auf das einzige Krankenhaus, Raketeneinschläge im einzigen Kraftwerk.

Schreiende Kinder, sterbende Menschen.

Hunger, Blut, Tod.

 

Ich schalte das Radio aus.

In meinem ersten Impuls möchte ich eine hohe Mauer bauen, um sie alle, am besten noch einen Deckel drauf. Nach fünfzig Jahren kann man dann mal nachsehen, was daraus geworden ist. Wahrscheinlich hat sich das Problem dann erledigt.

 

Eigentlich aber möchte ich etwas ganz anderes.

 

Ich möchte sie einladen, zum Grillen. Zu Irina, in den Schrebergarten vor den Toren der Stadt. Sie werden nicht kommen. Aber irgendwann vielleicht ihre Enkel...

Kontakt

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